Die Wirkfaktoren der Sonneninsel
Die Sonneninsel ist Österreichs erstes psychosoziales Nachsorgezentrum für (ehemals) an Krebs erkrankte Kinder und Jugendliche. Wie die Sonneninsel mit ihrem Angebot wirkt, möchten wir im Interview mit unserer pädagogisch-therapeutischen Leitung, der Klinischen Psychologin Martina Weber, verdeutlichen.
Warum ist die psychosoziale Nachsorge nach einer Krebserkrankung so wichtig?
Martina Weber: Rund 85% der Kinder mit einer Krebsdiagnose in Österreich überleben heutzutage glücklicherweise ihre schwere Erkrankung. Dabei beginnt die Nachsorgeleistung schon im Krankenhaus. Bereits hier ist es wichtig, die Familien zu informieren, welche Möglichkeiten es in Österreich gibt, von der Reha angefangen über die Aufenthalte bei uns auf der Sonneninsel. In der Zeit der Akutbehandlung sind alle Ressourcen der Familie auf die Genesung des Kindes konzentriert, dies ist verständlich und wichtig. Die Familien allerdings darüber aufzuklären, dass eine psychische Erschöpfung nach Therapieende nichts Ungewöhnliches darstellt und es Angebote und Möglichkeiten zur individuellen Unterstützung für sie gibt, das ist ein klares Ziel das wir verfolgen.
Wie wirkt das Angebot der Sonneninsel?
Martina Weber: Grundsätzlich gibt es fünf Wirkfaktoren, auf denen die Arbeit der Sonneninsel basiert. Dazu zählen Selbstwirksamkeit, das Erleben von Flow-Momenten (Glückserleben), Optimismus, Kontrollüberzeugung (locus on control) und die Steigerung des Wohlbefindens. Alles Faktoren, die man für einen gelungenen Alltag braucht.
Diese Faktoren haben meist eine direkte Auswirkung auf den Alltag der Familien. Jeder Gedanke, jedes Gefühl und jede Handlung eines Menschen sind physiologische Ereignisse und die Körperzellen reagieren entsprechend darauf. Dies wird als Psychoimmunologie bezeichnet. Wir motivieren die Kinder und ihre Familien auf der Sonneninsel zu gemeinsamen Aktivitäten in der Natur, gesundem Essen, Erlebnissen in der Gruppe oder leiten sie an, neue Dinge auszuprobieren. Diese Erfahrungen in der Gruppe führen zu positiven Gedanken und Glückshormone wie Dopamin und Endorphin werden ausgeschüttet. Diese haben direkten Einfluss auf unser Immunsystem. Wir setzten auf die positive Verarbeitung der Krankheit.
Ähnlich wirkt auch das Konzept der Kontrollüberzeugung. Es hängt sehr davon ab, was ein Mensch bisher erlebt hat, in welcher Kultur er lebt, ob er gläubig ist, uvm. und wie die eigene Wahrnehmung darüber ist, aktiv Situationen beeinflussen zu können. Wenn wir mit dem eigenen Handeln positive Folgen verbinden und negative Erlebnisse eher äußeren Umständen zuschreiben, dann ist die eigene Kontrollüberzeugung hoch. Diese Fähigkeit fördern wir auf der Sonneninsel.
Eine weitere wichtige Säule ist das Konzept der Selbstwirksamkeit. Sehr oft geben Eltern von schwer erkrankten Kindern die Behandlungs- und Therapiekonzepte ganz in die Hände des behandelnden Ärzte-Teams. Dies ist sinnvoll und notwendig, weil die Therapiepläne komplex sind und sich die Familien auf das „Gesundwerden“ fokussieren. Manche Familien geben ihre „Handlungsfähigkeit“ zur Gänze ab, andere wollen alles ganz genau wissen. In jedem Fall ist ist es hilfreich, nach der Behandlung das Selbstwirksamkeitserleben jedes Familienmitgliedes zu stärken. Bei Geschwisterkindern fällt uns immer wieder auf, wie stark hilfsbereit und versorgend sie gegenüber dem erkrankten Kind sind, dabei aber ihre eigenen Bedürfnisse nicht mehr wahrnehmen und z.B. die Leichtigkeit beim Spielen verlernt haben. Oder die Eltern haben verstärkt das Gefühl, dass sie weiterhin auf die Handlungsempfehlungen von Experten angewiesen sind, um die Gesundheit ihres genesenen Kindes zu garantieren. Das entspricht aber nicht der Realität, sondern ist eine in der Krise erlernte Erfahrung. Hier auf der Sonneninsel leiten wir die Familien an, ihr Leben wieder selbst aktiv zu gestalten.
Wie sieht das konkret aus?
Martina Weber: Beim ersten Kontakt einer Familien mit uns ist die Verwunderung oftmals groß, da wir nach ihren Wüschen und Bedürfnissen fragen und die Inhalte des Aufenthaltes nicht vorgegeben werden. Die Kinder und Eltern wählen aus einem vielseitigen Aktivitäten-Programm ihre Favoriten. Wir wollen jedes Familienmitglied dort abholen, wo es gerade in seiner Entwicklung steht. Das Programm reicht von der geführten Schneeschuhwanderung, Klettern, Töpfern, Kreativem Gestalten bis hin zu einem Trommelworkshop, Gesprächen mit einer Psychologin, Kutschenfahrt, einer Entspannungsmassage, Klangschalentherapie oder das Zusammensein mit dem beliebten Besuchshund. Wir wollen jedes Familienmitglied dort abholen, wo es gerade in seiner Entwicklung steht.
Das Prinzip der Selbstwirksamkeit wirkt dann besonders gut, wenn sich Familien eine Aktivität ausgesucht haben und diese als tatsächlich schön empfunden hat. Dabei spielt es keine Rolle, ob es eine unbekannte Aktivität wie zum Beispiel Klettern war die erlernt wurde, oder etwas, das man in der Vergangenheit bereits gemacht hat. Wichtig ist, wieder selbst ins Handeln zu kommen und auch Dinge zu hinterfragen. Diese Fähigkeit ist zum Beispiel auch für die Verarbeitung der Krankheitsgeschichte wichtig. Menschen, die daran glauben etwas bewirken zu können, können in schwierigen Situationen selbstbestimmt handeln.
Es gibt viele wissenschaftliche Studien über die positive Wirkung dieses Konzepts: Eine hohe Selbstwirksamkeit führt zu niedrigeren Angst- und Depressionswerten, verbessert die Coping-Strategien bei chronischen Erkrankungen, führt zu geringerem Schmerzempfinden und zu einem verringerten Medikamentenkonsum.
Wie lange dauert die psychosoziale Nachsorge?
Martina Weber: Das ist von Familie zu Familie individuell. Wir sehen, dass manche Familien ganz bewusst keine weiteren Unterstützungen in Anspruch nehmen wollen, versuchen die schwere Zeit mit dem Verlassen des Krankenhauses wegzupacken. Dabei kann es vorkommen, das unverarbeitet Themen Jahre später wieder zum Vorschein kommen. Manche Familien begleiten wir bereits seit mehreren Jahren, manche Familien kommen nur einmalig zu uns. Die Kontakte sind so verschieden, wie die Menschen unterschiedlich sind.
Belastenden Themen in der Nachsorge können Schuldgefühle der Eltern sein, die denken ihr Kind nicht ausreichend vor der schweren Erkrankung geschützt zu haben oder Ängste und Unsicherheiten vor dem Auftreten eines Rezidives. Die Gedanken kreisen um die Unvorhersehbarkeit der Krebserkrankung. Wir auf der Sonneninsel helfen u.a. mit Gesprächen Abstand von diesen Gedanken zu nehmen, um wieder Aufnahmefähig und berührbar für Erlebnisse im Moment zu werden.
In unserer täglichen Arbeit sehen wir, dass Selbstberuhigung am besten funktioniert, wenn Familien beobachten können, dass es anderen betroffenen Familien mit mehr Abstand zur akuten Krankheitsphase wieder gut geht. Lebensmut lässt sich am einfachsten von jenen Familien lernen, die ein ähnliches Schicksal durchgemacht haben.
Nachsorge kann sogar mit vielen Jahren des Abstandes noch Thema sein, wie wir es im Moment bei unseren Get together-Wochenenden für junge Erwachsene sehen. Dabei geht es aber bereits mehr um Themen die jeweilige Lebensphase betreffen, wie zum Beispiel Beziehungsschwierigkeiten oder den Umgang mit körperlichen Einschränkungen nach einer Krebserkrankung.
Was sind langfristige positive Effekte der psychosozialen Nachsorge auf der Sonneninsel?
Martina Weber: Aufgrund von Gästebefragungen wissen wir, dass ein Aufenthalt auf der Sonneninsel das körperliche, psychische und soziale Wohlbefinden der Gäste fördert. Neben der Selbstwirksamkeit geht es vor allem auch darum, das Mindset zu ändern. Wie Eltern denken, überträgt sich auch auf die Kinder. Wenn die Eltern dauerhaft ängstlich sind, hat dies Einfluss auf die Entwicklung des Kindes. Wir versuchen, die Balance der Lebenserfahrungen mit ganz vielen positiven Erlebnissen in eine gesunde Richtung auszugleichen.
Deshalb ist ein weiterer Wirkfaktor der Optimismus. Wir auf der Sonneninsel pflegen einen positiven, wertschätzenden und authentischen Haltungsraum und geben diese Haltung an unsere Familien weiter. Eine optimistische Lebenseinstellung hilft dabei, belastende Erlebnisse leichter zu verarbeiten und einen gesünderen Lebensstil zu bevorzugen. Das bedeutet, wir leisten Hilfestellung bei der Gestaltung einer einer positiven Zukunft und geben Impulse dazu.
Welche kurzfristigen Erfolge kann man beobachten?
Martina Weber: Sehr positiv beobachten wir auch die Fähigkeit den sogenannten „Flow“-Moment auf der Sonneninsel zu erleben. Ein Flow ist ein positives emotionales Erleben einer Tätigkeit, das dadurch charakterisiert ist, dass eine Person ganz auf ihr Tun konzentriert ist und darin aufgeht. Man vergisst dabei sich selbst und die Zeit, weil man völlig konzentriert in einer Handlung ist.
Es braucht Angebote, Abstimmung, Wissen und Material damit solche „Flow-Momente“ entstehen können. Es geht auch darum, neue Fähigkeiten zu lernen oder Fertigkeiten spielerisch zu üben. Ein Beispiel dafür ist der Zirkusworkshop oder das Erlernen der Makramee Knüpftechnik. Beim Zirkusworkshop lernt der Mensch auf vielen Ebenen. Das beginnt bei der Ausdauer, bei der Stärkung des Selbstvertrauens bis hin zur Motorik (Körperspannung, Haltung, Gleichgewicht, Balance). Aber auch soziale Kompetenzen wie die Interaktion mit anderen, das Miteinander als Familie, das Scheitern und Fehler machen, aber auch Lob annehmen werden geübt und gestärkt. Es werden Kompetenzen trainiert, von denen man vorher nicht wusste, dass man sie hat. Man erhält Fachwissen, muss sich konzentrieren und wird durch das „eigene Tun“ vom Laien zum Experten.
Das Gefühl, kompetent und stark zu sein lässt sich auch auf eine positive Krankheitsverarbeitung übertragen. „Ich habe es (die massive Belastung dieser Krankheit) selber erlebt, erleben müssen, ich kann jetzt als Experte jemand anderen meine Hilfe anbieten (z.B. Betroffenenwissen weiterzugeben, Selbsthilfe, Eltern-Café, uvm.)