Ein Ort für die Trauer um das eigene Kind


Silvia Dovits leitet eine Gruppe für Eltern, deren Kind an Krebs verstorben ist. Hier finden Betroffene Raum für ihre Trauer. Ein Gespräch über den individuellen Trauerweg, Belastungen für alle Familienmitglieder und eine sehr große „Aufgabe, die das Leben stellt“.

Wenn ein Kind verstirbt, bleibt Ohnmacht zurück. Der Schmerz und der Verlust, den der Tod des eigenen Kindes in die Lebenslinie reißt, sind unermesslich. „Wenn ein Kind vor seinen Eltern stirbt, dann ist das gegen die natürliche Entwicklung. Eltern haben oft das Gefühl, ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden zu sein: Ihr Kind beim Aufwachsen zu begleiten und es immer zu beschützen.“ Mag. Silvia Dovits ist Klinische Psychologin und Systemische Familientherapeutin mit Schwerpunkt auf Trauma und Trauer. Seit mehr als zehn Jahren ist sie bei der Salzburger Kinderkrebshilfe tätig. Als Teil des Regenbogenteams begleitet sie Familien aufsuchend in der psychosozialen Nachsorge. Auf der Sonneninsel Seekirchen leitet Silvia Dovits eine Trauergruppe für trauernde Eltern.

Unser Kind muss überleben

Die Diagnose Krebs kommt wie ein Schock ins Familienleben. Ab diesem Zeitpunkt beginnt für das betroffene Kind, seine Eltern und die Geschwisterkinder oft ein Spießrutenlauf und eine Zeit voll wiederholter Krankenhausaufenthalte, schmerzhafte Therapien und großer Ungewissheit. Silvia Dovits begleitet Familien während der Therapiephase und weiß: „Das Familiensystem ist sehr belastet. Viele Familien leben nur noch von Therapieblock zu Therapieblock, jeder muss zurück stecken für das eine unbedingte Ziel: Unser Kind muss (wird) überleben.“ Nur mit solch einem Ziel ist es überhaupt möglich, die übermenschlichen Kräfte aufzubringen, die in dieser schwierigen Phase benötigt werden. Familien erleben in dieser Zeit traumatische Erfahrungen und müssen große Belastungen aushalten. Besonders einschneidend kann die Nachricht sein, dass sich ein Rezidiv gebildet hat: „Die Prognose ist deutlich schlechter als bei der Ersterkrankung, außerdem wissen die Eltern bereits, was jetzt auf sie zukommt.“ Wenn der Krebs schlussendlich die Überhand gewinnt, verliert die ohnehin schwer belastete Familie den Boden unter den Füßen. Silvia Dovits, zwei Kinderkrankenschwestern und eine Ärztin der Kinderonkologie begleiten Familien aufsuchend in diesen Ausnahmesituationen. Die Grundlage des mobilen Teams ist die enge Zusammenarbeit mit der Salzburger Kinderonkologie in der SALK.

Trauer ist individuell

Nach dem Tod des eigenen Kindes durchleben die Eltern und Geschwisterkinder einen Trauerprozess, der sehr individuell verläuft. Anstatt der verbreiteten Trauerphasen spricht die Betroffenen-Expertin lieber von Traueraufgaben: „Die Trauer findet niemals linear statt, vielmehr ist der Trauerweg von Aufgaben begleitet, die jede für sich auch immer wieder durchlebt werden können.“ Unmittelbar nach dem Tod funktioniert das Familiensystem meist weiter wie zuvor. Der Alltag ist so voller Aufgaben, das Leben geht weiter. Die Geschwisterkinder brauchen Aufmerksamkeit, viele organisatorischen Herausforderungen warten. Die Normalität des Alltags kann anfangs hilfreich sein, „um zu überleben. Es ist eine wichtige Phase des Selbstschutzes.“ Die erste Traueraufgabe ist schließlich, den Verlust des eigenen Kindes zu begreifen. Die Trauer um den geliebten Menschen ist allgegenwärtig: Im Haus, im Kinderzimmer, am Weg zur Schule, beim Blick auf Familienfotos. Immer wieder wird man daran erinnert, dass das Kind nicht mehr da ist. Häufig treten Schuldgefühle auf „Manche Eltern sagen auch, sie hätten die kräftezehrende Therapie beendet und ihr Kind nicht weiter leiden lassen, wenn sie gewusst hätten, dass die Krankheit am Ende gewinnt,“ erklärt Silvia Dovits.

Von Trauerpfütze zu Trauerpfütze

Die zweite Traueraufgabe ist das Erleben und Umgehen mit heftigen Gefühlen. Diese machen sich auch körperlich bemerkbar: Schmerz, Traurigkeit, Verzweiflung und Wut breiten sich aus und nehmen die Betroffenen ganz für sich ein. Die Trauertherapeutin erklärt: „Diese Gefühle kommen und gehen, sie verlaufen wie Wellenbewegungen.“ Bei Kindern ist dieser natürliche Trauerprozess gut zu beobachten: „Eltern sind oft erstaunt, wie Kinder mit Trauer umgehen. Sie sind im einen Moment zu tiefst traurig, im nächsten Moment wieder fröhlich und wollen sich ihrem Spiel widmen. Wir nennen das “von Trauerpfütze zu Trauerpfütze“ springen. In diesem Wechsel der stark ausgeprägten Gefühlsbewegungen verläuft die Trauer. Vorausgesetzt man lässt ihr genügend Raum.“ Eine weitere Hürde ist die Akzeptanz des Verlustes und die Bereitschaft, die Veränderung zulassen zu können. „Auch wenn es schwer fällt, ist es ganz wichtig, dass trauernde Eltern sich wieder für das Leben entscheiden. Wenn ein Abschied aus einem Lebensabschnitt nicht gelingt, bleiben Eltern oft in dieser Lebensphase verhaftet.“ Wie die einzelnen Familienmitglieder mit dem Verlust umgehen, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab: „Von der eigenen Bindungs- und Verlustgeschichte, eigenen Traumata, wie der Verstorbene gestorben ist und der Situation danach.“ Eine große Rolle spielt auch das soziale Umfeld. Jeder Mensch geht anders mit Trauer um. Anders als viele erwarten, verläuft Trauer nicht „nach Plan“ oder linear von einer Traueraufgabe zur nächsten. Silvia Dovits erklärt: „Im Prozess des Trauerns lässt sich nichts wirklich vorhersehen. Manchmal kommt einem vor, dass man den Abschiedsprozess schon hinter sich gelassen hat. Dann ist man plötzlich wieder mitten drin im emotionalen Strudel.“

Trauer geht, Liebe bleibt

Nach dem Prozess des Begreifens und der Akzeptanz, der stets individuell verläuft, folgt die vierte Aufgabe: Eltern finden einen (inneren oder äußeren) Ort für die Trauer um ihr verstorbenes Kind. Nach dem Tod sind die Trauer und der Schmerz erstmal überall. Die Psychotherapeutin weiß: „Es wäre unmenschlich zu sagen, dass man das Kind loslassen oder gar vergessen soll. Die innere Beziehung bleibt auch nach dem Tod bestehen. Ein innerer „Trauer-Ort“ ist eine Möglichkeit, um die Eltern-Kind-Einheit weiterleben zu lassen.“ Durch ihre begleitende Arbeit erkannte Silvia Dovits die Notwendigkeit, Trauerräume für trauernde Eltern zu schaffen. „In unserer Gesellschaft hat Trauer keinen Platz“, bringt sie eine der größten Herausforderungen des Trauerprozesses auf den Punkt. Wenn es gelingt, einen inneren Beziehungs-Ort für die Trauer des verstorbenen Kindes zu finden, kann das Leben langsam und Schritt für Schritt wieder weitergehen. Anders als zuvor, aber vielleicht wieder mit etwas Freude, mit anderen Werten, mit neuen Aufgaben und Zielen. In ihren regelmäßig stattfindenden Trauergruppen arbeitet Silvia Dovits gerne mit Achtsamkeitsübungen in Verbindung mit Körperwahrnehmung, denn „der Körper bringt uns immer dahin, wo wir wirklich sind: Ins Hier und Jetzt.“

Kein Platz für Trauer im Alltag

Zur Trauergruppe, die Silvia Dovits regelmäßig auf der Sonneninsel Seekirchen anbietet, kommen trauernde Eltern und Geschwister auch aus angrenzenden Bundesländern. Dabei treffen unterschiedliche Menschen zusammen, die das gleiche Schicksal verbindet: „Das Leben hat ihnen die gleiche Aufgabe gestellt.“ Innerhalb der Gruppe gibt es ein starkes Miteinander und viel Raum für das Gegenüber. Das Gemeinschaftsgefühl stärkt jeden Einzelnen. Die Unterstützung geht über die Treffen hinauf – durch die gemeinsame Whats-App-Gruppe bleiben die Eltern in Verbindung und unterstützen sich gegenseitig.

© Silvia Dovits. Auf der Sonneninsel gibt es genügend Raum für alle.

Neben dem Austausch und psychologischer Unterstützung ist das gemeinsame Tun sehr heilsam: „Bei einem Treffen hatte ich die Idee, Lebensbänder für die Verstorbenen zu knüpfen. Die Familien kamen dann spontan auf den Einfall, ein Lebensband für alle gemeinsam zu knüpfen – alle teilten ihre Erinnerungen und Erlebnisse in der Gruppe und knüpften Perlen für die schönen Momente und Knoten für die schweren und dunklen Augenblicke ins Lebensband.“ Solche Momente machen die Arbeit für Silvia Dovits besonders wertvoll. Für die meisten Eltern ist die Trauergruppe der einzige Ort, an dem sie wirklich offen trauern können. „Ein betroffener Vater hat es einmal so beschrieben: Trauer darf in meinem Alltag einfach nicht mehr sein.“ Erst in der Trauergruppe ist es ihm gelungen, seinen Gefühlen Raum zu geben. Die Österreichische Kinderkrebs-Hilfe bietet auch spezielle Wochenende für trauernde Eltern und Familien an, die ebenfalls von Silvia Dovits und einem Team von erfahrenen KollegInnen begleitet werden.

Wie werden wir wieder eine Familie?

Als Gruppenleiterin übernimmt Silvia Dovits die Organisation der Treffen, zudem gibt sie thematische Schwerpunkte vor, falls dies gewünscht ist. „Manchmal sprechen wir aber einfach über ein Thema, das für die Gruppenteilnehmer im Moment besonders wichtig ist.“ Dazu gehört etwa das Verhalten der Mitmenschen, die nicht so recht wissen, wie sie mit dem Verlust umgehen sollen. Oder der Umgang mit Erinnerungen, die an besonderen Tagen wie dem Geburtstag oder an Weihnachten besonders stark sind. Ein Schwerpunkt ist auch die Frage „Wie werden wir wieder eine Familie“? Silvia Dovits erzählt: „Die Eltern sind als Betroffene selbst die Experten, ich bereite einen sicheren Raum für die Eltern, um sie auf ihrem Trauerweg zu unterstützen und diese Treffen als Stärkung im Alltag erleben zu können.“

Ganz anders als man es vielleicht erwarten möchte, gibt es in der Trauergruppe auch Platz für Leichtigkeit und Lebensfreude. „Wir spielen gemeinsam, etwa eine abgewandelte Version von Stadt-Land-Fluss mit Erinnerungen an den Verstorbenen und seinen Lieblingsdingen. Wir lachen auch und freuen uns miteinander. Nach der langen Zeit voll Trauerschmerz tut das sehr gut.“ Zum Abschluss jedes Treffens gehört das gemeinsame Essen. Der gemeinsame Weg zurück zur Normalität tut allen gut.

© Silvia Dovits. Gemeinsame Ausflüge geben Kraft.

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