Psychosoziale Nachsorge auf der Sonneninsel
Verzweiflung, Angst, Wut, Trauer, Hilflosigkeit – neben der körperlichen Belastung sind schwere Erkrankungen, wie etwa Krebs, auch für die Psyche eine große Herausforderung. Sie hinterlassen seelische Spuren, die oft erst nach der Akutversorgung zu wirken beginnen. Das Erlebte zu verarbeiten und wieder zurück in den Alltag zu finden, stellt viele Familien vor eine Hürde. Hier unterstützt die Sonneninsel als psychosoziales Nachsorgezentrum.
Systemische Nachsorge in Österreich
In der akuten psychosozialen Nachsorge ist schnelles Handeln wichtig. Die Suche nach kassenfinanzierten Therapieplätzen ist oft mit langen Wartezeiten verbunden. In Kliniken wird der Fokus zudem auf die medizinische Nachsorge gelegt, diese konzentriert sich meist auf das erkrankte Kind. Die Sonneninsel bietet betroffenen Familien eine systemische Nachsorge und kümmert sich um das gesamte Familiensystem.
„Die Sonneninsel hat die gesamte Familie im Blick: Geschwister, Eltern, Großeltern – alle bekommen wieder Raum zur Entfaltung.“
Eine Besonderheit, die das einzigartige psychosoziale Nachsorgekonzept der Sonneninsel ausmacht. Entwickelt wurde es vom Team der Sonneninsel vor Ort. „Bei uns auf der Sonneninsel bekommen wir die direkte Rückmeldung unserer Gäste. Unsere Programme werden entsprechend den Wünschen und Bedürfnissen der Familien entwickelt“, berichtet Martina, pädagogisch-therapeutische Leiterin der Sonneninsel. Das Angebot ist für die Familien kostenlos.
Der Weg zurück in den „neuen Alltag“
Viele Betroffene müssen nach extremen Belastungen erst einmal zur Ruhe kommen und Schritt für Schritt wieder zurück in einen neuen Alltag finden. Viele Dinge haben sich verändert, vieles ist nicht mehr so, wie es vor der Erkrankung war. Doch warum braucht dieser Prozess so viel Zeit und Aufmerksamkeit? Eine Erklärung findet sich in der Gehirnentwicklung, wie Sonneninsel-Psychologin Elisabeth erklärt: „Emotionale Zentren sind evolutionsbiologisch älter als das Großhirn, wo höhere kognitive Denkprozesse stattfinden“, erklärt Elisabeth. Sie vergleiche es gerne mit einem mehrstöckigen Gebäude: „Der älteste und zugleich wichtigste Teil unseres Gehirns ist das Stammhirn – es bildet sozusagen das Fundament. Hier geht es um die Basisfunktionen unseres Körpers, wie etwa Atmung oder Herzschlag.
Später bildet sich das Mittelhirn heraus. Dazu gehören das limbische System, die für die Emotionsverarbeitung zuständige Amygdala sowie der Hippocampus, der für das Einspeichern von neuen Informationen und für das Erinnern wichtig ist.Da die Amygdala und der Hippocampus ganz enge Verbindungen zueinander haben, werden emotional aufgeladene Erfahrungen, sowohl positiver als auch negativer Art, ganz stark erinnert.
Zuletzt entwickelt sich das Großhirn. Hier geht es um komplexe Problemlösestrategien, um das Finden kreativer Lösungen.“
Am sprichwörtlichen „Black-out“ in Stresssituationen hat die Amygdala einen nicht unwesentlichen Anteil: „Die Amygdala reagiert sehr stark bei Angst und Wut. Ist sie aktiviert, wird der ganze Körper in Alarmbereitschaft versetzt, Stresshormone werden ausgeschüttet. In diesem Zustand kann der Mensch nicht mehr klar denken. Denn Emotionen haben immer Vorrang gegenüber höheren kognitiven Denkprozessen – weil sie älter sind und dem Überleben dienen. Im Umkehrschluss bedeutet das: Kreativ denken, etwas Neues ausprobieren und neue Sichtweisen einnehmen – all das funktioniert nur in einem ruhigen, positiven Zustand.“
Die Natur beruhigt
Zur Ruhe kommen können die Gäste der Sonneninsel im weitläufigen Naturschutzgebiet, welches das Haus umgibt. „Die Natur spielt hier eine große Rolle. In der Natur kommen wir zur Ruhe. Bei einem Waldspaziergang etwa kann man den Gedanken freien Lauf lassen und Gefühle besser sortieren. Wenn wir mit unseren Gästen rausgehen, gelingt es ihnen besser, ihre Probleme aus einem anderen Blickwinkel zu sehen“, berichtet Elisabeth.
„Familien, die zu uns kommen, sagen immer wieder, dass es sich hier um einen Kraftplatz handelt. Sie kommen an und auf einmal fällt der ganze Stress von ihnen ab.“
Ganz bewusst werde die Natur daher in die Programme eingebaut. „Viele Familien nutzen den Zugang zum Wasser oder gehen in den Wald. Es gibt rundherum Wiesen, es gibt Wild-Tiere, die immer wieder nahe zum Haus kommen. All das hat Einfluss darauf, wie wir mit den Familien arbeiten und wie sie die Zeit hier im Haus verbringen können“, erklärt Martina.
Die Auswahl der Programme
Nach dem Motto „Nimm dir, was du brauchst! Nimm dir, was dir guttut!“ stellt das Team der Sonneninsel einen Baukasten an Angeboten zur Verfügung und begleitet die Familien auf ihrem Weg in einen neuen Alltag. Ob Sport, Musik oder Kunst, psychologische Begleitung, tiergestützte Therapie oder Entspannungsmassagen: Es gibt eine Vielzahl an bunten Möglichkeiten. Im Erstgespräch und bei der Anmeldung wird ein individuelles Programm zusammengestellt. „Wir unterstützen die Familien dabei, in sich zu gehen und selbst zu entscheiden, was ihnen im Moment guttut.“
„Das Ziel dieses bedürfnis-orientierten Ansatzes ist es, die Familie dabei zu unterstützen, nach einer langen Zeit der Fremdbestimmung während der Intensivtherapiephase, ihre eigenen Bedürfnisse wieder wahrzunehmen, Vertrauen in sich selbst zu entwickeln, Verantwortung für sich zu übernehmen und individuelle Strategien für den „neuen“ Alltag zu entwickeln.“
„Zusätzlich gibt es viele Möglichkeiten vor Ort, spontan an Aktivitäten teilzunehmen. Auf der Sonneninsel treffen die Familien schließlich auf andere Familien, die Kinder lernen sich kennen und es werden vielleicht weitere Programmpunkte interessant“, erzählt Elisabeth. Manchmal haben sich die Familien gar nicht zu einem psychologischen Gespräch angemeldet. Doch dann trifft man sich in einer unserer gemütlichen Nischen im Haus und es entsteht spontan ein sehr natürliches, hilfreiches Gespräch.
Diese ungeplanten Gespräche seien oft Anstoß für mehr, weiß Martina. „Die Gäste merken, wie heilsam und hilfreich es ist, sich zu öffnen. Ohne Druck Wörter fließen zu lassen. Pläne werden geschmiedet und manche Dinge ins richtige Licht gerückt.“
Die Frage nach dem „Warum“
Warum trifft die Erkrankung unser Kind, unsere Familie? Nicht selten suchen Betroffene einen möglichen Grund für ihren Schicksalsschlag. Damit einher geht oft auch ein Schuldgefühl. „Manche Eltern fragen sich, ob sie etwas anders machen hätten können. Diese Fragen müssen thematisiert werden. Im besten Fall wird erkannt, dass es wenig Einflussmöglichkeit gab. Denn tatsächlich gibt es keine Antwort auf diese Frage“, erklärt Martina. Der Austausch mit anderen Betroffenen zeigt, dass sie nicht die einzige Familie mit diesem Problem sind – eine oft hilfreiche Erkenntnis. Zu sehen, wie andere mit ihrer Situation umgehen, spendet zudem oft Kraft und Mut.
Die Sonneninsel für Zuhause
Um die neuen, positiven Erfahrungen auf der Sonneninsel auch Zuhause umsetzen zu können, ist oftmals eine längerfristige Betreuung notwendig. Das Nachsorgekonzept der Sonneninsel versteht sich deshalb als Begleitung, solange die Familien das möchten. „Wir nützen unser Expertenwissen und unsere Erfahrungen, haben ein großes Netzwerk an Menschen, die in diesen Bereichen tätig sind und geben all dieses Wissen und diese Kontakte an die Familien weiter. Die Familien wissen: Es gibt da diesen Ort in Seekirchen, an dem psychosoziale Nachsorge geboten wird“, erklärt Martina. Dabei gibt es kein Zeitlimit: „In der Nachsorge kommen viele Themen erst später hoch. Wenn ein Junge mit drei Jahren an Leukämie erkrankt, kann es sein, dass er sich mit 14 Jahren plötzlich viel intensiver als Gleichaltrige mit dem Thema Tod auseinandersetzt. Auch dann ist es wichtig, dass mit dem Nachsorge-Team der Sonneninsel darüber sprechen zu können.“
Empfehlungen für die Sonneninsel
In den Wartebereichen von Kliniken, bei den Kinderkrebshilfen und Sozialberatungsstellen liegen Infomappen und Broschüren der Sonneninsel auf. Die größte Empfehlung kommt allerdings von den Familien, die schon hier waren. „Zu Beginn war es schwierig, weil nur Wenige etwas mit dem Begriff der psychosozialen Nachsorge anfangen konnten. Es gab nur wenige Empfehlungen von Expertenseite. Aber das ändert sich gerade. Es wird viel geforscht in diesem Bereich. Und es gibt die Idee, unser Konzept auf andere Bundesländer und Länder auszuweiten. Mittlerweile reichen unsere 52 Betten nicht mehr aus für den ständig steigenden Bedarf“, berichtet Martina.
Gut zu wissen
Das Psychologenteam der Sonneninsel
Martina Weber, MSc.
Seit 2016 pädagogisch-therapeutische Leiterin der Sonneninsel. Die gebürtige Oberösterreicherin hat neben der Ausbildung zur klinischen Psychologie auch die Ausbildung zur Psychoonkologin absolviert.
Dr. Elisabeth Uttenthaler
Nach Abschluss des Psychologie- und Neurobiologie-Studiums in Salzburg, absolvierte die Oberösterreicherin an der TU München das Doktoratsstudium im Bereich der Neurowissenschaften. Nach vielfältigen Erfahrungen in der Forschung als auch in der Klinik seit Februar 2023 auf der Sonneninsel als Psychologin tätig.